Sonntag, 29. August 2010

Einmal drüber schlafen statt eilig entscheiden

Inneren Abstand zu den Problemen, die gelöst werden wollen, gewinnen - Nicht ständig so heiß essen, wie gekocht wird – einige Berater erinnern ihre Kunden derzeit gerne daran

"Alle Weisheit beginnt mit der Erkenntnis der Tatsachen." Diese kluge Bemerkung des römischen Anwalts, Redners und Philosophen Cicero ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Was zu bedauern ist. Denn "ohne gründliches Nachdenken erschließen sich die Tatsachen nicht" , erinnert der Unternehmensberater Professor Hermann Simon seine auf Schnelligkeit getrimmte Klientel. Und spricht damit das vermutlich größte Manko derzeitiger Unternehmensführung an: das übereilte Handeln.

Denn, so Simon, "wenn etwas zu kurz kommt aufgrund der vielen Ansprüche, die ständig auf eine Führungskraft einströmen, dann ist es Zeit zur Besinnung, zum Überlegen, zum Abwägen." Kurz: inneren Abstand zu den Problemen herzustellen, nicht aus dem vermeintlichen Druck der Situation heraus überhastet aktiv zu werden.

"Solide, weiterführende Problemlösungen verlangen Zurückhaltung. Im Denken wie im Handeln. Mithin als Erstes und Wichtigstes, sich von den Problemen zu lösen, auf innere Distanz zu ihnen zu gehen, dem Geist die Möglichkeit zu geben, sich auf sie einzustellen" , rät auch Thomas Weegen, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Coverdale, München, seinen Kunden. Und erinnert an den unseren Altvorderen noch ganz geläufigen Rat, erst einmal eine Nacht über die Probleme zu schlafen. Weegen: "Wer ihn schon einmal beherzigt hat, weiß um seine Nützlichkeit. Unabhängig von ihrer Art und Größe, Probleme werden handlicher, gelingt es, sich nicht gänzlich von ihnen in den Bann schlagen zu lassen."

In der Ruhe liegt die Kraft

Was so oft gesagt und so selten beherzigt wird: In der Ruhe liegt die Kraft, gerade im Umgang mit Problematischem, nicht nur in Entscheidungssituationen. Sich diese Ruhe zu bewahren ist der zuverlässigste Schlüssel zu Lösungen mit längerem Haltbarkeitsdatum. Übereiltes Handeln schafft nur zusätzliche Irritationen. Das zeigt der Blick in die Politik ebenso wie der blühende Unsinn der Quartalsberichterstattung in der Wirtschaft, der das Blickfeld und den Horizont verengt und nichts Segensreiches zur Unternehmensführung beisteuert.

"Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird." Das war einmal eine selbstverständlich gebrauchte Lebensweisheit. Wann haben Sie diesen die Gemüter beruhigenden Einwurf aus verantwortlichem Munde zum letzten Mal in einer Besprechung gehört?

"Überall wird von beängstigend zunehmender Komplexität geredet" , berichtet Weegen. Aber die praktische Konsequenz daraus werde kaum gezogen: Erst denken und nachdenken, dann den Mund aufmachen und/oder handeln, sich die Zeit nehmen, etwas gründlich zu hinterfragen, einer Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Dabei nähme gerade die darauf fußende Lebenseinstellung den Problemen und Fährnissen des beruflich-geschäftlichen Betriebs viel von ihrer oft als Bedrohung empfundenen Herausforderung und umtreibenden Beunruhigung. Nichts eröffne Führungskräften so die Möglichkeit zu größerer innerer Ruhe und Handlungssicherheit wie Besinnen, Überlegen, Abwägen. Und dazu gehört auch, sagt Weegen, "sich mit seinen Leuten im offenen Diskurs zu beraten und sich tatsächlich auch beraten zu lassen" .

Mitreißende Probleme

Leider ist diese Haltung sehr selten geworden. Die Regel ist inzwischen, sich von Problemen einfach mitreißen zu lassen, schnell Stellung zu nehmen, sich fix zu positionieren, den eigenen An- und Absichten zuwiderlaufende brüsk zurückzuweisen. Auf der Strecke bleibt dabei auch die Möglichkeit zu erkennen, dass es sich oft, viel zu oft um lediglich konstruierte und/oder eilfertig unter persönlichen Nützlichkeitserwägungen herbeigeredete und -geschriebene Probleme handelt. Letzteres scheint inzwischen sogar zu einer individuell wie gesamtgesellschaftlichen Selbstverständlichkeit geworden zu sein, die bestürzt.

Bezeichnend die Bemerkung von Johannes Steyrer, Professor an der Interdisziplinären Abteilung für Verhaltenswissenschaftlich Orientiertes Management an der Wirtschaftsuniversität Wien: "Für mich fragen sich die Akteure, und zwar sowohl in Wirtschaft als auch in der Politik, viel zu wenig rational und lange, was sie tun. Wenn wir alle wüssten, wie schrecklich banal da Entscheidungen getroffen werden, wir würden uns wirklich wundern und zudem unendlich fürchten."

Hilfreiche Sprichwörter

Es ist überhaupt nicht altmodisch, bedachtsam und besonnen zu sein, sich vor vorschnellen und vorschnell abweisenden Beurteilungen und Schritten in Acht zu nehmen. Sprichwörter wie "Eile mit Weile" , "Gut Ding will Weile haben" , "Blinder Eifer schadet nur" , "Der Eifer ist wohl ein guter Diener, aber ein böser Herr" sind aus tiefer Lebenserfahrung entstanden.

Dass sie heute kaum noch bekannt sind, ist zu bedauern. Sie vermitteln nämlich Gelassenheit, begrenzen das Gefühl banger Hilflosigkeit, das sich angesichts schwieriger Problem- und Entscheidungssituationen leicht einstellt. Sie machen ein wenig souveräner im Umgang mit den Herausforderungen einer übereilig gewordenen überdrehten Welt.

Sie bewahren sogar davor, sich in spontaner Geschäftigkeit zu erschöpfen und sich damit meist weitere Probleme einzuhandeln. "Wenn ich bei einem augenblicklichen Ärger Geduld habe, so kann ich mir Sorgen für hundert Jahre ersparen" , rät ein uraltes chinesisches Sprichwort. Sinnverwandt die Bemerkung des vorchristlichen römischen Dichters Horaz: "Ein Scherz, ein lachend Wort entscheidet oft die größten Sachen treffender und besser als Ernst und Schärfe."

Notwendige Souveränität

Es braucht allerdings Souveränität, solchen Maximen zu folgen, sie zur eigenen Verhaltenskonstante zu machen. Angesichts des allgegenwärtigen, aufgeregten Aktionismus lohnt es aber, sich darum zu bemühen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass sowohl Arbeitgeber wie Arbeitnehmer sich künftig noch weit mehr als heute mit problematischen, unübersichtlichen Konstellationen und Situationen auseinandersetzen müssen.

Um sie zu meistern, braucht es diese Souveränität. Dazu die Souveränität des Wissens, dass die einzig sinnvolle Problemlösung oft die unerwartete, nicht unmittelbar voraussehbare ist, dass Ab- und Zuwarten äußerst hilfreiche Verhaltensweisen bei der Lebensbewältigung sein können, dass "Gemach, gemach" wahrlich nicht die dümmste aller Lebensmaximen ist. Und dass sie unbedingt dem Impuls, dem Moment folgend loszustürmen und entsprechend unbedacht nach "Lösungen" zu greifen, vorzuziehen ist. Dieser ist unsouverän.

Solches Vorgehen wird inzwischen zu einer immer größeren Last. Die Auswirkungen sind in Politik und Wirtschaft überall zu spüren. Kleine Geister drehen atemlos große Räder, handeln aus dem vermeintlichen Druck der Situation heraus viel zu voreilig, nicht zu Ende gedacht, gefangen in den Fesseln des treibenden Zeitgeistes und ebensolchen unreflektierten Ehrgeizes. Und bestätigen damit ein ums andere Mal das alte Sprichwort: "Was früh zeitig wird, fault bald." (Hartmut Volk, DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.8.2010)

Lesetipps zum Thema

* Dietrich Dörner: "Die Logik des Misslingens" , Rowohlt Verlag, Reinbek, 8. Auflage 2009, 352 Seiten

* Stefan Strohschneider / Rüdiger von der Weth: "Ja, mach nur einen Plan - Pannen und Fehlschläge - Ursachen, Beispiele, Lösungen" , Verlag Hans Huber, Bern, zweite, vollständig überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Auflage 2002, 296 Seiten

* Hermann Simon: "Think - Strategische Unternehmensführung statt Kurzfrist-Denke" , Campus Verlag, Frankfurt/Main, limitierte Sonderausgabe 2009, 235 Seiten

* Bianca Braun: "Erfolgreich jenseits der Börse - Was führende Familienunternehmen auszeichnet" , Verlag Orell Füssli, Zürich 2009, 167 Seiten

* Carol Tavris / Elliot Aronson: "Ich habe recht, auch wenn ich mich irre - Warum wir fragwürdige Überzeugungen, schlechte Entscheidungen und verletzendes Handeln rechtfertigen" ,Riemann Verlag, München 2010, 382 Seiten

* Manfred Prisching: "Das Selbst Die Maske Der Bluff - Über die Inszenierung der eigenen Person" , Molden Verlag, Wien 2009, 221 Seiten

* Peter von Matt: "Die Intrige - Theorie und Praxis der Hinterlist" , Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2. Auflage 2009, 496 Seiten

Quelle: DerStandard online; 28. August 2010