Samstag, 7. April 2012

Arbeitswelt und psychische Belastungen: Burn-out ist keine Krankheit

Die Spannweite der Diskussion um das Burn-out-Phänomen reicht von der völligen Ablehnung als vorübergehende Modewelle bis zur Gründung von „Burn-out-Kliniken“. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde will zur Versachlichung der Debatte beitragen.

Das Burn-out-Phänomen wird seit mehreren Monaten intensiv in Presse, Talkshows und in der Bevölkerung diskutiert. Diese Entwicklung ist nachdrücklich zu begrüßen, da dadurch das Stigma, das noch immer auf psychischen Erkrankungen liegt, erkennbar reduziert wird. Gleichzeitig sind jedoch in der Burn-out-Diskussion erhebliche Verwirrungen aufgetreten. Die Spannweite der Diskussion auch innerhalb des Gesundheitssystems reicht von der völligen Ablehnung als vorübergehende Modewelle bis zur Gründung von „Burn-out-Kliniken“. Insbesondere bedürfen folgende Sichtweisen einer fachlichen Kommentierung:
die Gleichstellung von Burn-out mit jeglicher Form psychischer Krisen und Erkrankungen, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer Arbeitsüberlastung auftreten,
der Gebrauch des Begriffs Burn-out gleichbedeutend mit Depression,
die Annahme, Burn-out sei die Ursache des durch psychische Störungen bedingten Anstiegs von Krankschreibungen und Frühberentungen, was vom Gesundheitssystem zu verhindern sei.
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Burn-out ist eigentlich ein Problem der Arbeitswelt

Das Positionspapier einer Taskforce der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) (1), dessen Kernpunkte im Folgenden dargestellt werden, soll zu einer Versachlichung der Diskussion beigetragen.

Außerhalb Deutschlands wird Burn-out vornehmlich als Problem der Arbeitswelt, das heißt als Thema der Sozialpartner sowie der Arbeits- und Organisationspsychologen gesehen. Der Psychoanalytiker Herbert Freudenberger, der Mitte der 70er Jahre den Begriff „Burn-out“ einführte, beschrieb damit die gesundheitlichen Folgen beruflicher Überlastung, ohne dass bereits eine Krankheit vorliegt (2). Auch Sozialpsychologen wie Maslach und Mitarbeiter, die das Burn-out-Phänomen in die drei Dimensionen „emotionale Erschöpfung“, „Distanzierung von der Arbeit“ und „verringerte Arbeitsleistung“ untergliederten, sehen darin einen dauerhaften arbeitsbedingten negativen Seelenzustand (3). Mehr als 130 verschiedene Burn-out-Einzelbeschwerden sowie eine Vielzahl von unterschiedlichen Stufenmodellen wurden publiziert; verbindliche Diagnosekriterien einer gesonderten Krankheit Burn-out ergeben sich daraus jedoch nicht (4). Entsprechend hat die Weltgesundheitsorganisation in der ICD-10 eine Burn-out-Erkrankung nicht aufgeführt und wird dies – soweit bekannt – auch in der Revision, der ICD-11, nicht tun. In der ICD-10 werden im Anschluss an die Krankheitskapitel lediglich Problembereiche genannt, die zwar zur Kontaktaufnahme mit den Gesundheitsdiensten führen können, jedoch selbst keine Krankheit sind. In der Rubrik „Probleme verbunden mit Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“ ist unter der Unterziffer Z 73.0 „Burn-out, Zustand der totalen Erschöpfung“ aufgeführt (5).

Konträr zu dieser Sichtweise wird in Deutschland nicht nur in der Laienpresse, sondern auch im Gesundheitswesen Burn-out zunehmend als Krankheit mit Symptomen wie Depressivität, Suizidalität, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder existenzielle Verzweiflung gesehen.

Die Systematik in der Grafik differenziert die von Freudenberger oder Maslach als Burn-out bezeichneten Beschwerden in Übereinstimmung mit der ICD-10. Diese Differenzierung ist notwendig, um eine sachgerechte Handhabung des Problems im Gesundheitswesen und in der Arbeitswelt zu gewährleisten. Vier Entwicklungsstufen führen vom Stresserleben (ohne eine gleichzeitige Erkrankung) zu Erkrankungen mit vorausgehenden oder nachfolgenden Burn-out-Beschwerden.

Ungewöhnliche Anforderungen der Arbeitswelt können mit vegetativen Symptomen wie Angespanntheit, verminderter Schlafqualität und einem Erschöpfungsgefühl verbunden sein. Wenn diese absehbar zeitlich begrenzt sind und sich diese Stressfolgen in kurzen Erholungsphasen zurückbilden, sollte nicht von Burn-out gesprochen werden. Ansonsten besteht die Gefahr, routinemäßig bewältigbare Prozesse des Arbeitslebens in die Nähe von Krankheitszuständen zu rücken.

Viele Ursachen für andauernde Arbeitsüberforderung

Hält der Erschöpfungszustand jedoch mehrere Wochen bis Monate an, ist ein Ende nicht absehbar, und führen kurze Erholungsphasen nicht zu einer Rückbildung, sollte von einem Burn-out gesprochen werden. Erlebte, andauernde Arbeitsüberforderung kann ein breites Spektrum von Ursachen umfassen, wie arbeitsplatzbezogene Faktoren, das heißt real unbewältigbarer Arbeitsanfall, mangelnde Anerkennung durch Vorgesetzte, fehlende Abgrenzung zum Privatleben. Auch individuelle Faktoren wie reduzierte Stresstoleranz, überhöhte Zielsetzungen, Perfektionismus, Selbstüberschätzung oder unzureichende Qualifikation können ursächlich sein. Bedeutsam ist das individuelle Zusammenspiel beider Aspekte. Allgemein gültige Schwellenwerte gibt es folglich nicht.

Burn-out-Beschwerden sollten jedenfalls mit der Ziffer Z 73.0 von den konsultierten Ärzten oder Psychologischen Psychotherapeuten kodiert werden. Denn auch bei Abwesenheit definierter ICD-Krankheiten stellt Burn-out einen Risikozustand für nachfolgende psychische oder körperliche Erkrankungen dar. Besonders gefährdet sind Menschen mit entsprechenden früheren Erkrankungsphasen von Depressionen, Angst- oder Abhängigkeitserkrankungen. Die klinische Erfahrung zeigt, dass Burn-out auch körperliche Krankheiten wie Tinnitus, Hypertonie oder Infektionskrankheiten begünstigen kann.

Wenn bei einem Patienten infolge einer längerfristigen Arbeitsüberforderung eine Erkrankung nach den ICD-10-Kriterien wie Depression, Angststörung, chronisches Schmerzsyndrom, Tinnitus oder Bluthochdruck aufgetreten ist, sollte die Krankheitsverschlüsselung nach ICD-10 erfolgen, da sie das weitere Vorgehen bestimmt. Wenn angenommen wird, dass die Arbeitsüberforderung zu Entstehung und Aufrechterhaltung der Krankheit beiträgt, sollte regelhaft die zusätzliche Kodierung mit der Anhangsziffer Z 73.0 vorgenommen werden. Diese Zusatzkodierung erfolgt bisher nur unsystematisch mit der Gefahr ihrer Vernachlässigung in die Behandlung.

Burn-out-Beschwerden als Folge von Erkrankungen


Gänzlich anders sind burn-out-ähnliche Beschwerden zu bewerten, wenn diese eine (Früh-)Symptomatik, das heißt Folge einer Erkrankung darstellen. Typische Beispiele sind: multiple Sklerose, Schilddrüsenerkrankungen, Depressionen, chronische Insomnien, Infektionskrankheiten oder Tumorerkrankungen. Sie können das Gefühl von Überforderung, Insuffizienz und Erschöpfung am Arbeitsplatz zur Folge haben. Deswegen ist dringend indiziert, dass vor der Feststellung eines Burn-outs eine genaue medizinische Diagnostik erfolgt. Das Unterlassen einer zeitnahen notwendigen gezielten Behandlung wäre die Folge.

Die Prävention von Burn-out-Zuständen ist zu einem breit diskutierten Anliegen geworden. Dabei geht es erstens um die Prävention, die an den Arbeitsbedingungen ansetzt: Bereits seit 2004 besteht in der Europäischen Union eine Sozialpartnervereinbarung zum Thema psychosozialer Stress am Arbeitsplatz. Diese Empfehlung hat in den meisten EU-Staaten zu gesetzlichen Regelungen geführt. Darin werden psychosoziale Belastungen den physikalischen Risiken wie Lärm, Licht, Vibration, Toxinen und anderem gleichgestellt. In Deutschland wurden entsprechende verpflichtende Arbeitsschutzgesetze nicht erlassen, beziehungsweise nicht umgesetzt, so dass nur bei der Minderheit der Betriebe Gefährdungsbeurteilungen auch psychische Stressoren einschließen (6). Diese Regelungslücke dürfte ein entscheidender Grund dafür sein, dass Burn-out in Deutschland zu einem Problem des Gesundheitswesens geworden ist. Arbeitnehmer würden sich sehr wahrscheinlich seltener hilfesuchend an Ärzte wenden, wenn auch in Deutschland die Anzeige von gesundheitsgefährdend erlebtem psychosozialem Stress am Arbeitsplatz zu einer verbindlichen Gefährdungsüberprüfung führen würde. Der wachsende Veränderungsdruck durch Rationalisierung und Computerisierung führt zu ständig neuen Aufgabenprofilen, die psychosoziale Gefährdungsbeurteilungen immer dringlicher erscheinen lassen.

Die personenbezogene Prävention zielt auf die Stärkung der Bewältigungsressourcen des Einzelnen ab. Hierzu liegt eine Fülle von Konzepten, Ratgebern und Empfehlungen vor. Dabei sind unscharfe Grenzen zwischen Arbeitsüberforderung mit Burn-out und üblichen Arbeitsbelastungen sowie zwischen Burn-out und Depression gängig. Es gibt bisher wenige als wirksam evaluierte Präventionsstrategien (4, 7).

In Deutschland liegt die Verantwortung für die Primärprävention von Funktionseinbußen und Krankheiten nicht beim Gesundheitssystem. Bei Burn-out-Beschwerden können Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten eine indizierte Diagnostik durchführen. Nur wenn bei Burn-out-Beschwerden eine psychische oder somatische Erkrankung festgestellt wird, besteht Anspruch auf eine längerfristige kassenwirksame Leistung, wie eine ambulante oder stationäre Psychotherapie.

Bei Erkrankungen ist Therapie geboten


Sonst sollten die Patienten beraten und auf die Präventionsangebote von Krankenkassen oder Betrieben hingewiesen werden. Das Wissen von Ärzten und Psychologischen Psychotherapeuten um potenzielle Grund- und Folgeerkrankungen bei Burn-out-Beschwerden dürfte einen wichtigen Vorteil gegenüber anderweitig ausgebildeten Burn-out-Beratern darstellen.

Bei Erkrankungen, die im zeitlichen Zusammenhang mit erlebter Arbeitsüberforderung auftreten, besteht in der Regel die Notwendigkeit einer Therapie. Die Patienten haben Anspruch auf eine vergütete Behandlung, die an den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) orientiert sein sollte. Die Benutzung von Burn-out als Oberbegriff für sämtliche arbeitsbedingte psychische Störungen birgt erhebliche Gefahr. Dies gilt, wenn Burn-out-Berater oder -Kliniken den Patienten den Eindruck vermitteln, dass mit Wellnessangeboten oder gesundem Essen, Sport, Entspannungs- und Zeitmanagementtraining jegliche psychische Störung in Zusammenhang mit Arbeitsstress behoben werden könne. So entsteht das Risiko, dass Patienten evidenzbasierte Therapien nicht für nötig erachten oder sie ihnen vorenthalten werden.

Die erlebte Überforderung am Arbeitsplatz ist bei einer gleichzeitig bestehenden behandlungsbedürftigen Erkrankung für die störungsspezifische Therapie bedeutsam. Anderenfalls ist bei Rückkehr an denselben Arbeitsplatz der Behandlungserfolg gefährdet. Deshalb ist zu fordern, dass in die Krankheitsbehandlungen Burn-out-Zusatzmodule eingeführt werden, die in kontrollierten Studien auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Solche Behandlungen sollten neben der Ressourcenverbesserung der Patienten darauf hinwirken, dass ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht, dem sie gewachsen sind und der ein arbeitsbedingtes Wiedererkrankungsrisiko minimiert. Ziel der Therapien sollte es aber nicht sein, dass Patienten inakzeptable und unbewältigbare Arbeitsbedingungen vorübergehend wieder tolerieren können.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2012; 109(14): A 700–2


Dtsch Arztebl 2012; 109(14): A-700 / B-610 / C-602
Berger, Mathias; Falkai, Peter; Maier, Wolfgang
Universitätsklinikum Freiburg, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie: Prof. Dr. med. Berger
Universitätsmedizin Göttingen, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie: Prof. Dr. med. Falkai
Universitätsklinikum Bonn, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie: Prof. Dr. med. Maier