Von der Befreiung über den Kampf bis zum Verfall: Sozialforscher Rogge über die Psyche von und den Umgang mit Arbeitslosen
Fünf Modi der Arbeitslosigkeit (siehe unten) hat Benedikt Rogge anhand von 60 Interviews mit Kurz- und Langzeitarbeitslosen destilliert. Im Interview mit derStandard.at erklärt der deutsche Sozialwissenschaftler, welche Strategien im Umgang mit Arbeitslosigkeit zum Einsatz kommen und welche Rolle dabei die Lebensumstände und das Milieu spielen.
1. Im Modus der Umstellung sind vor allem geringqualifizierte Menschen mit prekären Erwerbsbiographien, die immer wieder, aber nur für kurze Zeit, arbeitslos werden, sich rasch auf ihre Arbeitslosigkeit ein- und umstellen, und sich bei Leih- oder Zeitarbeitsfirmen verdingen, bevor ihr Arbeitslosengeld-1 ausläuft. Sie sind sich sicher, dass sie wieder Arbeit finden werden. Sie sehen sich selbst als "normale Arbeitslose" und grenzen sich scharf von denen ab, die sie als "asoziale Arbeitslose" bezeichnen. Ob sie arbeiten oder nicht, macht für ihre psychische Gesundheit nur einen geringen Unterschied.
2. Im Befreiungsmodus fühlen sich die Befragten einer psychisch belastenden Erwerbsarbeit entledigt. Sie verfügen über hohe materielle und berufliche Ressourcen, kultivieren ihre Freizeit und erleben eine "Auszeit", eine Zeit der Wiederaneignung ihres Selbst und der gestiegenen Lebensqualität. Auch sie gehen fest von einer Rückkehr in die Erwerbsarbeit aus. Sie haben die Arbeitslosigkeit oft selbst gewählt und halten sich darum für "anormale", ja "heroische Arbeitslose". Ihnen geht es psychisch besser als vor der Arbeitslosigkeit.
3. Der Kampfmodus ist schon häufig beschrieben worden. Hier steht für die Befragten ihr altes Ich auf dem Spiel. Sie sind sich unsicher, ob sie jemals wieder in ihr Leben von vor der Arbeitslosigkeit zurückkehren können. Es herrscht die Angst, sozial auf Dauer abzurutschen, der Alltag besteht nur noch aus Arbeitssuche, Nervosität und Erschöpfung, die sozialen Beziehungen sind in Mitleidenschaft gezogen. Familienväter und -mütter sind besonders oft in diesem Modus zu finden, sind sie doch bestimmt von der Sorge um die Zukunft ihrer Kinder und dem Gefühl, ihre Elternrolle mangelhaft auszufüllen. Die Frauen und Männer im Kampfmodus wollen den drohenden Makel der sozialen "Minderwertigkeit" abwenden. Sie kämpfen, und ihre Psyche ist deshalb in Aufruhr. Diese Gruppe ist die am meisten belastete und weist durchgehend Depressivitäts-, Ängstlichkeits- und Aggressivitätswerte auf, die die Schwelle zu einer klinisch relevanten Erkrankung überschreiten.
4. Im Verfallsmodus besteht keine Hoffnung mehr, in das "alte Leben" zurückzukehren. Hier wird im Alltag nur noch resignativ durchgehalten, soziale Bindungen sind gekappt, die Selbststigmatisierung ist in vollem Gange. Es sind überwiegend Langzeitarbeitslose, die inzwischen nicht mehr von einer wesentlichen Änderung ihrer Situation ausgehen. Hier dominiert das chronische Empfinden des Selbstverlusts und der Selbstabwertung, denn die Schatten des alten Lebens und die Anforderungen der Arbeitsgesellschaft sind noch immer präsent. Die psychische Gesundheit ist auch in dieser Gruppe stark beeinträchtigt.
5. Im Transformationsmodus schließlich finden sich die langzeitarbeitslosen Befragten mit ihrer Situation ab und entwickeln eine gelingende Lebensführung außerhalb des Arbeitsmarktes. Sie solidarisieren sich mit anderen, die sich unter Umständen in ähnlichen Erwerbssituationen befinden, und entfalten stigmaresistente, alternative Deutungen ihrer Arbeitslosigkeit. Nachdem viele eine psychische Krise durchgemacht haben, stabilisiert sich die Gesundheit im Transformationsmodus wieder.
Quelle: http://derstandard.at/1371170189365/Die-vielen-Gesichter-der-Arbeitslosigkeit