Montag, 10. Januar 2011

Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand

Muslime, die die Integration verweigern, Parallelgesellschaften bilden und ihre Bildungsunwilligkeit "vererben" - Aussagen wie diese stehen im Mittelpunkt des Buchs "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin, das 2010 hohe Wellen geschlagen hat. Berliner Forscher überprüften nun Sarrazins Thesen anhand statistischer Erhebungen und schätzen sie als nicht haltbar ein.

Kategorie: Integrationsdebatte Erstellt am 10.01.2011.

Wurde der einstige Berliner Finanzsenator und Ex-Bundesbankvorstand für seine Aussagen kritisiert, verwies er immer wieder auf die in seinem Buch dargestellten "statistischen Fakten " und den Umstand, dass sie bisher nicht entkräftet worden seien. Dem stellen Naika Foroutan und ihre Kollegen von der Humboldt-Universität Berlin nun Statistiken gegenüber, die sie dem Mikrozensus 2008 und 2009 und 20 Studien deutscher Forschungseinrichtungen zu Muslimen in Deutschland entnahmen. Die Politikwissenschaftler gingen insbesondere auf das Kapitel "Zuwanderung und Integration" in Thilo Sarrazins Buch ein, aber auch auf Äußerungen in Interviews.

Die 70-seitige Analyse "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand" steht auf der Website des Forschungsprojekts "Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle(HEyMAT)" zum Download bereit.
Thesen mit großer Wirkung

"Besorgniserregend ist, dass die Probleme der muslimischen Migranten auch bei der zweiten und dritten Generation auftreten, sich also quasi vererben, wie der Vergleich der Bildungsabschlüsse zeigt." Es sind Aussagen wie diese, die die Wogen hoch und Sarrazins Buch allein in Deutschland 1,2 Millionen Mal über den Ladentisch gehen ließen. Auch in Österreich blieben die Äußerungen nicht ohne Folge, tauchten sie doch nicht zuletzt auch im Wahlkampf um den Wiener Landtag immer wieder auf.

Und es sind Aussagen wie diese, die die Forscher in ihrem Dossier herausgreifen und statistischen Erhebungen gegenüber stellen. Die Ergebnisse scheinen eindeutig: Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge herausgegebene Studie über "Muslimisches Leben in Deutschland" stellt fest, dass - egal aus welchem Land die Eltern kommen - ein Bildungsaufstieg bei der zweiten Generation deutlich erkennbar sei.
Beste Schule für die Kinder

Filtert man nochmals die Türken heraus, die Sarrazin als besonders bildungsunwillig beschreibt, zeigt sich, dass 22,4 Prozent der türkischstämmigen, zwischen 20- und 25-jährigen Deutschen über eine Matura verfügen - während nur vier Prozent der Elterngeneration diesen Schulabschluss vorweisen konnten. Türkische Eltern zeigen sich laut dieser Analyse überdurchschnittlich ehrgeizig, was die Ausbildung ihrer Kinder betrifft: So wünschen sich 80 Prozent, dass ihr Nachwuchs das Abitur macht, während das nur 74 Prozent der deutschen Eltern wichtig ist.

Zwar räumen die Forscher ein, dass sich der Anstieg auch durch das geringe Bildungsniveau der Elterngeneration ergebe, letztlich gehe es aber um die Entwicklung. Und dass es über den Generationenverlauf keine positive Entwicklung gebe, lasse sich statistisch nicht untermauern, heißt es in der Analyse.
Sprache, Kopftuch, Abschottung

"Auch der Umstand, dass sich die Türken und die Araber zu großen Teilen kaum Mühe geben, Deutsch zu lernen, ist ein Ausdruck fehlenden Interesses an der Mehrheitskultur und mangelnder Bildungsbereitschaft", sagt Thilo Sarrazin in einem Interview mit der "Zeit", in seinem Buch äußert er sich ähnlich. Auch diese These glauben die Forscher um Naika Foroutan widerlegen zu können: So stellte das konservative Institut für Demoskopie Allensbach fest, dass "70 Prozent der türkischstämmigen gute bzw. sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache" vorweisen - laut Einschätzung der Interviewer.

Hinsichtlich eines der prägnantesten Symbole des Islams, dem Kopftuch, meinen die Politikwissenschaftler, dass Sarrazin schlicht schlampig gearbeitet habe: Er behauptet in seinem Buch, dass der Anteil an Kopftuch tragenden Frauen unter den Jungen zunehme, dabei habe er seine Quelle, den Religionsmonitor 2008 der Bertelsmann Stiftung, falsch gelesen, so die Forscher. Denn dort wurde nicht abgefragt, wer tatsächlich Kopftuch trägt, sondern nur, ob eine Frau ein Kopftuch tragen sollte. Tatsächlich nehme der Anteil an den Kopf bedeckenden Frauen ab, je jünger die Befragten werden.

Und auch bei der Abschottung von ihrer deutschen Umwelt liegt Sarrazin laut Analyse falsch. Denn laut Befragungen haben mehr als drei Viertel der Interviewten häufig Freundschafts- oder Nachbarschaftskontakte mit Deutschen, Türken wünschen sich am häufigsten deutsche Nachbarn.

Eigenes Bild machen

Die Wissenschaftler belegen ihre Gegenargumente penibel mit Quellen, zahlreiche Abbildungen sollten es dem Leser erleichtern, sich selbst ein Bild zu machen. Letztlich legen sie Wert darauf, dass sie nicht bestehende Probleme der Integration beschönigen, sondern positiven Entwicklungen mehr Öffentlichkeit verschaffen wollen - und da gehöre die Auseinandersetzung mit den polarisierenden Thesen Thilo Sarrazins eben dazu.

Elke Ziegler, science.ORF.at